Bürokultur: Handlungsanleitung für Siesta und Bällchenbad.

Unternehmenskultur klingt toll. Lasst uns einfach lustige Räume für unsere Mitarbeiter bauen! Aber Achtung: So einfach ist das nicht. Das räumliche Angebot muss auf jeden Fall auf die Seele des Unternehmens abgestimmt und feingetunt werden.

Für die meisten Thailand-Reisenden ist die Adresse Chaeng Wattana mit schlechten Erfahrungen verbunden. Die lange Straße im Norden Bangkoks gilt als nervliche Zerreißprobe, befindet sich hier doch das Außenministerium mit Behörden für Visumanträge sowie für Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen. In der Regel beläuft sich die Wartezeit auf mehrere Stunden.

Seit wenigen Monaten jedoch kann das lange Warten im wahrsten Sinne des Wortes beschleunigt werden. Im zweiten Stock des riesigen Ratthaprasanabhakti-Gebäudes, in dessen gedecktem Atrium sich eine Freifläche für Fachmessen und Veranstaltungen befindet, wurde eine 412 Meter lange Laufstrecke mit insgesamt drei Bahnen errichtet. Entsprechende Piktogramme am Boden geben Aufschluss über die zu wählende Geschwindigkeit: Walking, Jogging, Running. Über eine App, die man auf seinem Smartphone installieren kann, kann die Laufstrecke getrackt, gemessen und gespeichert werden. Auf Infoscreens entlang der Strecke findet man seinen Namen eingeblendet.

„Sky Running“, so der offizielle Titel der Indoor-Installation, ist eines der ungewöhnlichsten und auch medienwirksamsten Projekte des Bangkoker Immobilienentwicklers Dhanarak Asset Development. Ein wichtiger Faktor ist, dass die Strecke nicht nur den Bediensteten zur Verfügung steht, sondern eben auch von Kunden und Antragstellern genutzt werden kann. Auch Gäste, die es bevorzugen, in der klimatisierten Luft ihre Runden zu drehen, anstatt auf den Bangkoker Straßen die Abgase zu inhalieren, sind willkommen.

Der Raum als Versprechen.

„Ein tolles Projekt“, sagt Martin A. Ciesielski, der 2017 in Berlin die „Schule des Nichts“ gegründet hat und ihr nun als Head of Nothing vorsteht. Er beschäftigt sich mit Unternehmensberatung, Social Prototyping und dem Training digitaler Führungskompetenzen. „Aber solche exotischen Angebote im Büro müssen auf jeden Fall zur jeweiligen Unternehmenskultur passen. Wenn das nicht der Fall ist, wenn die Laufstrecken, Fußballtische, Hängematten, Schlafkojen und Bällchenbäder nicht den Geist der Firma widerspiegeln, dann wird das über kurz oder lang definitiv zu Spannungen im Team führen.“ In gewisser Weise, sagt Ciesielski, seien solche Gadgets und räumlichen Einrichtungen als Versprechen zu verstehen. „Ein Bällchenbad verspricht eine coole, lockere Unternehmenskultur, in der es legitim ist, irgendwann im Laufe des Arbeitstages eine Auszeit zu nehmen und sich in den Plastikkugeln zu zerkugeln. Wenn die Unternehmenskultur dieses zwar materiell manifeste, aber im Grunde genommen immaterielle Versprechen jedoch nicht einlösen kann, dann geht der Schuss nach hinten los, dann ist das alles nicht mehr als ein Fake, dann wird man letztendlich mehr Schaden als Nutzen anrichten.“

Auch Bernhard Kern, Geschäftsführer der Roomware Consulting GmbH, warnt vor zu viel Belustigung auf Kosten der Authentizität: „Es gibt durchaus Unternehmen, wo es passt, eine Laufstrecke, ein Fitness-Center, eine Rutsche, eine Gondel oder eine von Street-Art-Künstlern angesprayte Küche zu installieren. Aber ich warne ausdrücklich davor, solche Elemente als Marketing-Instrument und falsches Employer-Branding zu verwenden. In jedem Fall muss sich das räumliche Angebot aus der Seele des Unternehmens ableiten. Zuerst die Kultur, dann der Raum.“ Das treffe auch auf das Büro-Layout mit Open-Space-Lösungen und Desk-Sharing mit Clean Desk Policy zu. Eine spürbare Diskrepanz aus Raum und Kultur, so Kern, werde früher oder später zwangsweise zu Konflikten führen.

Das Wörterbuch der Siesta.

„Arbeitsplätze sind wesensmäßig Lebensräume. In ihnen wird der als eigentlich privat bezeichnete Lebensalltag fortgesetzt“, schreibt der emeritierte Sozialpsychologe und ehemalige Direktor der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, Peter Heinrich, in seinem bei Springer erschienenen Wörterbuch zur Mikropolitik. „Die Stunden, die jemand werktäglich am Arbeitsplatz zubringt, sind gelebtes Leben, dessen Qualität auch von der Aufmerksamkeit abhängt, die der Betrieb und die Schaffenden auf die Gestaltung der Arbeitsumwelt verwenden. Damit ist sowohl die räumlich-physikalische als auch die sozial-kommunikative Umwelt gemeint.“ So gesehen muss man mit den räumlichen Angeboten im Büro entsprechend reflektiert und vor allem behutsam umgehen – ob das nun Think-Tanks, animierende Mittelzonen oder kontemplative Silent-Rooms für die Siesta oder für die Ausübung religiöser Rituale sind.

Eine solche Erfahrung am eigenen Leib hat Architekt Michael Anhammer, Partner im Wiener Büro Franz&Sue, gemacht. Von ehemals zwei kleinen Büros namens Franz und Sue ist man innerhalb kürzester Zeit fusioniert und auf insgesamt 50 Mitarbeiter angewachsen. In ihrem neu geschaffenen Wohn- und Geschäftshaus Stadtelefant im Sonnwendviertel, dem riesigen Stadterweiterungsgebiet im Hinterland des Wiener Hauptbahnhofs, schufen Franz&Sue ein zweistöckiges Architekturbüro mit geschoßübergreifender Arena, Gesprächskabinen, Stehpulten, zwei Balkonen, einer großen Terrasse und sogar zwei übereinander angeordneten Liegekojen, die an klassische ÖBB-Schlafwagen erinnern. Seit Anfang des Jahres ist das neue Büro in Betrieb.

„Wir haben das räumliche Angebot geschaffen und sind davon ausgegangen, dass sich die entsprechende Kultur bei unseren Mitarbeitern informell und unkompliziert etablieren wird“, so Anhammer. Doch dann habe man gemerkt: Was in einem kleinen Team mitunter gemeinschaftlich funktioniert, brauche in einem 50-köpfigen Büro gewisse Spielregeln sowie einen von der Geschäftsführung initiierten Kommunikationsprozess. „In den ersten Wochen wussten unsere Mitarbeiter nicht, ob und wie sie die von uns geschaffenen Rückzugsräume nutzen können. In der Zwischenzeit haben wir ein Format namens High-Five eingerichtet, das alle vier bis sechs Wochen stattfindet und bei dem die fünf Partner auf fünf gewählte Team-Delegierte stoßen. Dabei arbeiten wir gemeinsam an unserer Büroqualität und Organisationskultur. Eine solche Oral-History mit Verhandlungsspielraum ist uns allemal lieber als harte, quantifizierbare Spielregeln.“

Genaue Formulierung der Ziele.

Diese Prozesse, bestätigt auch Sabine Zinke, seien für jeden Change im Unternehmen essenziell wichtig: „Ein räumliches Leitbild muss immer mit der Definition beziehungsweise mit der Veränderung eines kulturellen, eines technischen, eines wirtschaftlichen Leitbilds einhergehen“, sagt die Leiterin des Geschäftsfeldes „Arbeitswelten verändern“ im Wiener Consulting-Unternehmen M.O.O.CON. „Je genauer die Ziele formuliert werden, desto besser! Nichts ist kontraproduktiver als leere Marketing-Worthülsen, deren Inhalte man sich nicht wirklich genau überlegt hat.“ Das beziehe sich vor allem auf Trend-Begriffe wie etwa Flexibilität, agiles Arbeiten und transparentes Kommunizieren.

„Ich lege jedem ans Herz“, so Zinke, „Konsequenzen und Wechselwirkungen mitzudenken: Angenommen, das mittlere Management verliert seine Einzelbüros und wandert ins Open Space: Welche Auswirkungen hat das auf den Arbeitsalltag? Wie verändern sich die Kommunikationsabläufe? Und welchen Beitrag kann man leisten, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen Wechsel nicht als Kontrolle wahrnehmen?“ All das gehört kommuniziert, diskutiert und vereinbart – zum Beispiel in Form von regelmäßig stattfindenden Neighborhood-Councils.

Fokus auf die Seele.

Dass man bei derartigen Councils und Strategie-Workshops auf jeden Fall hinter die Fassaden und Kulissen schauen müsse, weiß Jens Kapitzky, der von 2010 bis 2015 den Österreichischen Bundesverlag führte und heute in Schleswig-Holstein die auf Organisationsberatung spezialisierte Metaplan-Akademie leitet. „Raum und Unternehmenskultur können eine wunderbare Harmonie miteinander eingehen. Aber dazu muss man tief hinuntergraben“, sagt Kapitzky. Und erläutert im Klartext: „In jeder Organisation gibt es drei Ebenen – und zwar die Schauseite, die formale Seite und die informale Seite. Überspringen Sie die Schauseite! Da finden sich meist bloß naive Worthülsen, mit denen sich das Unternehmen offiziell und marketingtauglich schmückt. Wenn eine nachhaltige Veränderung stattfinden soll, dann muss dies ohnehin auf der formalen und informalen Seite passieren. Und das geht nur, wenn man sich mit den Mitarbeitern, ihren Vorlieben und Eigenheiten ganz tief drinnen, mit der Seele des Unternehmens beschäftigt – also mit all dem, was alle Betroffenen spüren und wissen und nirgendwo geschrieben steht.“

Laut einer Gallup-Studie, die letztes Jahr durchgeführt wurde, verrichten 71 Prozent der Deutschen nur noch Dienst nach Vorschrift. 14 Prozent geben sogar an, innerlich bereits gekündigt zu haben. Die Zahlen sind alarmierend. Dringende Handlungspflicht ist geboten.

 

Autor: Wojciech Czaja, Architekturjournalist

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