Freigeister unter sich.

Wann, wie und wo sie arbeiten, wollen immer mehr Mitarbeiter für sich selbst entscheiden. Doch wie weit kann und darf Freiheit gehen? Ein Essay über das neue Statussymbol der Arbeit.

 

„Was nützt die Freiheit des Denkens, wenn sie nicht zur Freiheit des Handelns führt?“ Die Worte des irischen Schriftstellers Jonathan Swift liegen mehr als 300 Jahre zurück, und doch scheinen sie nichts an Aktualität eingebüßt zu haben. In der Politik, in der Wirtschaft, in der individuellen Gestaltung unseres privaten Lebens sind wir heute so frei wie noch nie zuvor – zumindest in unseren geografischen Breiten. Allein, im Arbeitskontext ist der Begriff der Freiheit noch weitestgehend unbekannt. Trotz aller Bemühungen, dem Mitarbeiter einen angenehmen Arbeitsplatz zu bieten, trotz allen theoretischen Überbaus in Sachen Employer Branding empfinden viele Angestellte in ihrem Unternehmen eine gewisse Eingesperrtheit. Laut dem Meinungsforscherinstitut Gallup weisen 84 % aller Arbeitnehmer eine geringe oder keine emotionale Bindung mit ihrem Unternehmen auf (Quelle: Gallup Engagement Index 2015). Die Zahl ist frappant.

„Unsere Arbeitswelt vermittelt häufig die Botschaft, dass individuelle Bedürfnisse und Wünsche für Unternehmen nicht wichtig sind, kein Wunder“, sagte Jim Keane, CEO des US-amerikanischen Büroausstatters Steelcase, vor einigen Monaten in einem Gespräch mit dem Harvard Business Manager. „Würden die Maschinen in den Fabriken so ineffizient eingesetzt wie die Mitarbeiter, wären die Stakeholder außer sich.“ Keanes Lösungsansatz lautet, den Mitarbeitern mehr Freiheit einzugestehen. „Freiheit ist das neue Statussymbol. Um das individuelle Potenzial freizusetzen, muss man den Mitarbeitern die Wahl lassen. Sie benötigen Freiraum, um ihren individuellen Arbeitsstil zu entdecken.“ Der Appell richtet sich nicht nur an die Gestaltung des Arbeitsplatzes, sondern letztendlich auch an die gesamte Unternehmenskultur.

Motivation durch Selbstbestimmung.

Aus diversen Studien der vergangenen Jahre ist bekannt, dass soziale Beziehungen und Freundschaften im Unternehmen der Fluktuation entgegenwirken. Im Callcenter der Bank of America, wo das Management über regelmäßige Kündigungen seiner Angestellten klagte, wurde als Versuch eine individuelle Pausengestaltung eingeführt. „Als die Mitarbeiter selbst entscheiden konnten, wann sie Pause machen“, erzählt Keane, „hatten sie plötzlich die Möglichkeit, sich gezielt mit Kollegen zu verabreden, die sie sympathisch fanden. Mit der Zeit entwickelten sich Beziehungen – und die Fluktuationsrate sank.“

Auch hierzulande setzt man sich bereits mit den Facetten des Freiheitsbegriffs im Arbeitskontext auseinander. „Abhängig von der Firmenkultur und von der eigenen Position im Unternehmen ist Freiheit immer auch ein gewisser, individueller Handlungsspielraum“, erklärt die Grazer Arbeitspsychologin Christine Korak, Geschäftsführerin von Agil Gesundheitsmanagement. „Wer selbstbestimmt, selbstverantwortlich und selbstgestaltend arbeiten kann, ist zufriedener und motivierter. Der Arbeitgeber profitiert davon in Form von Gesundheit, Arbeitseffizienz und einer deutlich höheren Loyalität zum Unternehmen.“ Vor allem in Hinsicht auf die Zeiteinteilung fordert Korak ein Mindestmaß an Freiheit.

„Es gibt sogenannte Lerchen, Kolibris und Eulen, und abhängig vom jeweiligen Chronotyp beziehungsweise vom chronobiologischen Zyklus funktionieren wir alle zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten unterschiedlich gut. Daher appelliere ich immer, den Mitarbeitern eine gewisse zeitliche Freiheit zu lassen.“ Die Grenzen, erklärt die Psychologin, lägen dort, wo die Freiheit sich verselbstständigt und der Output nicht mehr kontrollierbar ist. Und natürlich dürfe man nicht vergessen, dass es auch Arbeitstypen gibt, auf die ein Zuviel an Freiheit unangenehm und beängstigend wirkt. Die richtige Dosis müsse von Fall zu Fall abgewogen werden.

Kollektive Unternehmensführung.

Auch örtliche Freiheit wird immer öfter auf Arbeitgeberseite angeboten sowie von Arbeitnehmerseite gefordert. „Wer sich heute als attraktives Unternehmen am Markt positionieren will, der wird seinen Mitarbeitern auch entsprechend attraktive Arbeitsbedingungen bieten müssen“, sagt Ewald Stückler, Geschäftsführer des Wiener Beratungs- und Planungsunternehmens Tecno Office Consult. „Ein gewisses Angebot an Stimmungen und Arbeitssettings würde ich heute bereits als Standard erachten – wohl wissend, dass dieser Standard noch lange nicht überall gegeben ist.“ Für den Mobilfunkanbieter Drei, der Hutchison Holding, baute er den Firmenstandort in der Brünner Straße um und unterteilte das Gebäude in unterschiedliche Erlebniszonen. Sogar im Garten wurden – ausgestattet mit Holzrosten, Gemüsebeeten, Stehlampen, Outdoor-Fauteuils und sogar einer kleinen Minigolfanlage – Arbeitsbereiche mit WLAN eingerichtet. „Ich empfehle immer, dass das Management die zur Verfügung gestellten Freiheitsgrade stets auch für sich selbst in Anspruch nimmt und mit positivem Beispiel vorangeht“, so Stückler. „Es gibt nichts Besseres als einen CEO, der in der Pause selbst einmal den Minigolfschläger schwingt oder für eine informelle Besprechung unter dem Baum Platz nimmt.“

In einigen Fällen geht die Freiheit sogar so weit, dass ganze Hierarchiestrukturen wegfallen und das Unternehmen von den Mitarbeitern kollektiv geführt wird. „Das Wiener Unternehmen Tele Haase, das wir als Consulter begleitet haben, besteht mehr oder weniger aus selbstorganisierten Teams ohne Chefs“, sagt Bernhard Kern, CEO der Roomware Consulting GmbH. „Das äußert sich natürlich auch in der Gestaltung der Büroräumlichkeiten. Wichtig ist nur, dass dieser so hohe Freiheitsgrad keine künstlich aufgelegte Maske ist, sondern zum Unternehmen passt. Wenn das gegeben ist, dann ist das im Idealfall eine Win-win-Situation für beide Seiten.“ Noch freier, noch fortgeschrittener ist Heini Staudingers Unternehmen Waldviertler Schuhe in Schrems, das gerade dabei ist, eine soziokratische Bürostruktur einzuführen. Das Sagen liegt dann nicht mehr beim Chef wie anno dazumal, sondern beim Kollektiv jedes einzelnen Mitarbeiters, jeder einzelnen Mitarbeiterin, die sich von nun an mit ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen von Arbeitskultur und Verantwortung einbringen können. Mit einem Ja, genauso wie mit einem Nein. Wie sagte doch der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau? „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“

 

Autor: Wojciech Czaja, Architekturjournalist

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