Eine Nacht mit Oscar Wilde.

Das NoMad in London, gestern Gefängnis, heute European Hotel of the Year 2021, spielt mit seiner ambivalenten Geschichte und beweist, dass auch im Düsteren viel Kraft und kreatives Potenzial schlummern. Ein Spaziergang durch eine nicht ganz alltägliche Hospitality-Immobilie.

Früher wohnten hier Oscar Wilde, die Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst und die Verbrecherzwillinge Kray Twins, die in den Fifties und Sixties im London East End mit Mord, Diebstahl, Gaunerei, Brandstiftung und illegalem Glücksspiel eine nicht ganz so erstrebenswerte Karriere hingelegt hatten. Wobei: Wohnen trifft’s vielleicht nicht so ganz. Viel eher saßen sie hier – manche legitimierterweise, andere nicht – monate- und jahrelang hinter Gittern. Am 20. April 1895 prangte auf der Titelseite der Police News die traurige Schlagzeile: „Oscar Wilde at Bow Street.“

Vor zwei Jahren war die ehemalige Bow Street Magistrates Court and Police Station im Herzen von Covent Garden abermals groß in den Gazetten. Diesmal aber nicht aufgrund ihrer unfreiwilligen Besucher, als vielmehr wegen ihrer aus freien Stücken zahlenden Gäste, die sich für ein paar Nächte in einen Raumrausch aus Licht und Schatten, aus Geschichte und frechem Augenzwinkern, aus physischer Gemütlichkeit und mentaler Abenteuerlust einquartieren wollen. Mit ihrer Niederlassung in der Bow Street 28 – auf halber Strecke zwischen Themse und British Museum, direkt gegenüber das Royal Opera House – hat die US-amerikanische Luxushotelkette NoMad nun ihr erstes Haus auf europäischem Boden eröffnet. Und was für eines!

„Das Gebäude wurde im 18. Jahrhundert errichtet und diente mehr als 250 Jahren lang als Polizeistation und Gefängnis“, sagt Stephen Alesch, der gemeinsam mit seiner Partnerin Robin Standefer das New Yorker Designbüro Roman and Williams leitet. „Das Haus hat einen harten, durch und durch maskulinen Charakter. Wir wollten dieser strengen Männlichkeit etwas Weiches und Glamouröses gegenüberstellen und dem Bestand in gewisser Weise einen weiblichen Touch verleihen. Dieses Hotel ist voller Dichotomien, voller kontrastierender Gegensätze, die für uns Ausdruck einer wirklich genussvollen, hedonistischen Manipulation sind.“

Spätestens dann, wenn am Abend im großen Speisesaal der Tisch gedeckt ist, üppig schwülstig mit klassischem Geschirr und Besteck, und zwischen meterhohen Olivenbäumchen die Kerzen erleuchten, weiß man, was mit dem dichotomischen Cross-over der Geschlechter gemeint ist. In der Mitte des Raumes offenbart sich das, was das New Yorker Designbüro als „ungebändigtes Wildlife“ bezeichnet, während sich im Hintergrund auf den hölzernen Wand- und Deckenkassetten ein mehr als zauberhaftes, fast schon gespenstisches Mural der französischen Künstlerin Claire Basler ausbreitet.

Andernorts wiederum Samt, Tapeten, Marmor, Kristall, Murano-Glas, Fransen und Kordeln, Designklassiker neben hochglänzenden, klavierlackierten Stilmöbeln. „Nein, wir haben keinen Stil und auch keine einheitliche Handschrift“, sagen Stephen Alesch und Robin Standefer, er Autodidakt und leidenschaftlicher Maler und Zeichner, sie ausgebildete Bühnen- und Filmbildnerin, die 15 Jahre lang als Visual Consultant für Martin Scorsese arbeitete. „Wir arbeiten mit dem, was wir vorfinden, und in diesem Fall ist das ein sehr redseliges Haus, das schon viel erlebt hat und eine unglaubliche, unverwechselbare Energie mitbringt. Dieses Haus ist ein Wechselspiel der Kräfte.“

Nach dem Umbau durch EPR Architects rund um Mark Bruce und der Interior-Gestaltung durch Roman and Williams birgt das denkmalgeschützte NoMad Hotel, das sich nun in Besitz der Sydell Group befindet, 91 Luxuszimmer. Hinzu kommen diverse räumliche Abenteuerlichkeiten wie etwa Lobby, Atrium, Bibliothek, Elephant Bar, Seminarräume und dramatisch gestaltete Salons für Hochzeiten, Banketts und Private-Dining. Die Zimmerpreise liegen regulär zwischen 400 und 600 Pfund, also jenseits aller wohlfeilen Schmerzgrenzen, doch dafür darf man sich im Glanz des European Hotel of the Year 2021 betten. „Wir wollen, dass die Menschen mit unseren Projekten bourgeoisen Komfort erfahren, aber auch eine wilde Romantik und Bohemian-Lebenslust entdecken“, sagt Alesch, der mit seinem Team bereits zahlreichen Hotels und preisgekrönten Gastronomietempeln ein Kleid verpasste und laut Architectural Digest zu den Top 100 Designers of the World zählt. „Sie sollen neugierig werden und in Gedanken wegfliegen wollen, ganz weit weg.“ Und wer weiß, vielleicht wird man in einem der Schlafzimmer dem Bildnis des Dorian Gray oder dem feministischen Geist der Suffragette Emmeline Pankhurst begegnen. Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht. Oscar Wilde.

Fotos: © Simon Upton

 

Autor: Wojciech Czaja, Architekturjournalist

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