Ein Boudoir aus Wolken und Wogen.

Für den Amsterdamer Raumausstatter Siersema hat das Architekturbüro Beyond Space einen Kilometer Kvadrat-Stoff in die Hand genommen und daraus ein poetisches Konzept aus Raumteilern und weichen Portalen geschaffen. Eine Ode an Himmel und Meer.

 

Schon zu seinen Lebzeiten um 1900 träumte der deutsche Schriftsteller Christian Morgenstern von der Auflösung himmlisch-irdischer Grenzen: „Den Wolken wird vielleicht einstmals eine besondere Verehrung gezollt werden – als der einzigen sichtbaren Schranke, die den Menschen vom unendlichen Raum trennt, als der gnädige Vorhang vor der offenen vierten Wand unserer Erdenbühne.“ Das holländische Architekturbüro Beyond Space hat diese Metapher nun als reales Bühnen- beziehungsweise Arbeitsbild nachgebaut. Am Entrepothaven im Osten Amsterdams hüllte es das Büro des lokalen Raumausstatters Siersema – im wahrsten und buchstäblichsten Sinn des Wortes – in ein neues Kleid aus himmel- und ozeanblauem Vorhangstoff.

„Wir sind hier inmitten eines neuen Stadterweiterungsgebiets, wo früher einmal Lager- und Logistikhallen für die holländische Schifffahrt waren“, sagt Stijn de Weerd, der das Büro Beyond Space gemeinsam mit seinem Partner Remi Versteeg leitet. „Noch befindet sich das Areal in Entwicklung, noch herrscht rundherum ein ziemlich herber, industrieller Gewerbegeist. Daher war uns wichtig, unserem Kunden, der sich selbst ja professionell mit Teppich, Textilien und Raumausstattung beschäftigt, schon von Anfang an eine gewisse Atmosphäre- und Gemütlichkeitskompetenz zu verleihen.“ Das Resultat dieser Überlegungen ist ein rund 200 Quadratmeter großer Open Space, in dem mit dem denkbar weichsten, denkbar softesten Baustoff aller Zeiten Räume, Arbeitszonen und Besprechungsbereiche definiert wurden.

„Insgesamt haben wir hier rund einen Kilometer Stoff verwendet, wobei uns eine gewisse Transparenz und Schleierhaftigkeit wichtig waren“, erklärt de Weerd. Die Wahl fiel schließlich auf dünnen, lichtdurchlässigen, nahezu durchsichtigen Gazestoff aus dem dänischen Hause Kvadrat mit der Farbbezeichnung Ocean Hue. „Wir haben, was die Wellendichte und den Abstand zwischen den einzelnen Stoffbahnen betrifft, ziemlich lange herumexperimentiert, bis wir den gewünschten Effekt erzielt haben. Nach einigen Iterationen haben wir einen Raumeindruck gewonnen, der mal luftig leicht, mal ganz klar abgeschirmt und abgeschottet ist, ohne dass man sich vom Stoff jemals zur Gänze umhüllt und erschlagen fühlt.“ An manchen Stellen hat man kaum das Gefühl, in einem 2021, also kürzlich erst fertiggestellten Neubau zu stehen. Genüsslich wird man – in einer Neuinterpretation von Großtantes Boudoir – in einen Wattebausch aus himmlisch-maritimer Ästhetik getaucht.

Technisch verbirgt sich hinter dem ungewöhnlichen Interior-Projekt ein handelsüblicher Polyesterstoff, der im Contracting-Bereich zu den beliebtesten Produkten von Kvadrat und Siersema zählt. Das aus hauchdünnen Fäden gewebte Textil erfüllt alle Brand- und Qualm-Anforderungen und konnte aufgrund seiner dichten Webart lasergecuttet werden. Eine Endelung, um Ausfransungen oder abstehende Fäden zu vermeiden, war nicht nötig. Lediglich am unteren Ende wurde aus Gründen einer gleichmäßigen Belastung und zugunsten einer gewissen Trägheit, damit das ganze Konstrukt nicht beim geringsten Windstoß ins Chaos gerät, eine feine Bleischnur eingenäht. Sollte der Stoff in zwei oder drei Jahren einmal gereinigt werden müssen, lassen sich die Bahnen in einem Stück von der Decke abnehmen.

Ergänzt wird das Material-Potpourri von einem hellgrauen Linoleumboden von Forbo. „Linoleum ist warm, haptisch angenehm und hat ausgezeichnete Akustik-Eigenschaften“, sagt de Weerd. „Wir haben damit sogar schon Wohn- und Büromöbel entworfen.“ Ein hoher Tresen in der Raummitte dient als Küche und Besprechungstisch für Stand-up-Meetings zugleich. Das Möbel ist ebenfalls ein Eigenentwurf von Beyond Space. Und dann sind da noch die eingetopften Pflanzen, die mit ihren weichen, dunkelgrünen Blättern mit den hellen Ozeanwogen an der Decke einen irgendwie koketten Dialog eingehen.

„Wir haben schon öfters gehört, dass das Siersema-Office ein weiblich anmutender Raum ist, und das werten wir durchaus als Kompliment, denn schließlich sind wir ein Büro mit zwei Männern an der Spitze“, meint Stijn de Weerd. „Schön, dass es uns gelungen ist, so ein Bild zu vermitteln.“ Beyond Space selbst bezeichnet diesen Design-Ansatz als Radical Cosiness. „Eine gewisse Gemütlichkeit und Wohnlichkeit im Büro ist wichtig, denn auch am Arbeitsplatz will ich mich wohlfühlen können“, erklärt der Architekt. „Dennoch darf man ein Büro nicht mit einem Wohnzimmer verwechseln. Die hier sichtbare Radikalität ist eine Form der Zuspitzung, des Spiels mit Bildern und Klischees.“ Und eine Form, die Kernkompetenz eines Raumausstatters mit einem Augenzwinkern und einem großen Hauch von Poesie manifest zu machen.

 

Autor: Wojciech Czaja, Architekturjournalist

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